Gestern Abend haben wir im Hotel noch ein Abendessen bestellt. An die Schweizer Preise muss man sich erst mal gewöhnen. Wie gut, dass wir das kleine Land mit einer Etappe durchqueren.
Auf unsere Bitte hin bekommen wir unser Frühstück bereits um 7 statt um halb 8. Die halbe Stunde macht bei unseren Tagen viel aus. Das morgendliche Packen des Rucksacks ist mittlerweile zur Routine geworden. Der Schweizer Kaffee ist vorzüglich und gut gelaunt geht es um viertel vor 8 los.
Da wir mit Tschierv einen Ort etwas oberhalb im Tal gewählt haben, können wir zunächst etwas bergab rollen, bevor unsere erste Steigung beginnt. Insgesamt steht diese Etappe mehr unter dem Motto “Strecke machen“ als Höhenmeter.
Doch auch die ersten 750 Höhenmeter, die über 7 Kilometer verteilt auf uns warten, wollen natürlich erarbeitet werden.

Der Tag startet bewölkt, doch darüber sind wir ganz froh. Regen bleibt für uns jedoch auch an diesem Tag ein Fremdwort.
Wir befinden uns im “Parc da natüra Biosfera Val Müstair“, einem Schweizer Naturschutzgebiet. Die meiste Zeit kurbeln wir schweigend nebeneinander her. Die Stille wird nur durch die Pieptöne unserer Radcomputer unterbrochen, wenn eine Richtungsänderung ansteht.

Wieder sehen wir breite Flussbetten, in denen kleine Bäche ins Tal fließen. Diese machen aber schon ordentlich Lärm. Wie tosend müssen die Wassermassen sein, wenn das Flussbett voll ist?
Aus einem Berg schießt unaufhörlich ein Wasserfall. Woher kommen diese Wasserströme wohl? Auch mit 42 hat man noch nicht die Antwort auf alle Fragen.
Wenn wir zurück blicken, können wir die schneebedeckte Spitze des Ortlers entdecken, der mit 3905M höchste Berg Tirols.


Wir starten unsere Abfahrt in dieses wundervolle Tal. Am Horizont sehen wir dunkle Wolken.

In der Ferne hören wir Kuhglocken. Die nächsten Kurven tasten wir uns vorsichtig heran und rechnen damit, dass uns plötzlich eine Kuhherde den Weg versperrt. Die Bauern mögen die Tiere vertreiben können, wir würden es uns wahrscheinlich nicht trauen. Und dann tauchen sie auch tatsächlich auf, grasen aber friedlich links und rechts des Weges und beachten uns nicht einmal. Wir durchqueren ein sandiges, ausgetrocknetes Flussbett, welches die Kühe scheinbar auch benutzen. Ein paar Meter weiter fliegt uns die Kuhscheiße aus unseren Stollen um die Ohren.
Christoph stoppt: “Ich hab Kuhkacka im Auge.“ Andre kann sich den Spruch nicht verkneifen: “Hömma Junge, warste in Urlaub? Bisso braun im Gesicht.“ Aber außer dem Auge sind keine Treffer zu verzeichnen.
Der Weg wird schmaler und wurzelig. Rechts sind Krüppelkiefern, links die Abbruchkante mit Abhang zum Fluss. Aber heute fährt auch Andre weiter.

Irgendwann endet dieser Abschnitt und wir kommen an einen Stausee. Eine SMS begrüßt uns in Italien. Ein Schild haben wir wohl übersehen.
Auch hier sind die Pegelstände des Stausees besorgniserregend. Alte Hausmauern sind zu sehen, die wahrscheinlich normalerweise vom See verborgen bleiben.

Unser Weg führt geradeaus am Ufer des Stausees entlang. Es kommt ein bisschen Biggesee-Gefühl auf und wir denken an die Heimat.

Hier ist noch viel Platz für Wasser. Wie lange muss es wohl regnen, damit sich der Pegelstand wieder normalisiert?

Wir erreichen den Nationalpark Stilfser Joch („Stifflers Joch“, wie Christoph es am Abend zuvor benannte. Aber das war etwas anderes…). Ein beliebtes Ziel von Ausflüglern, Schulklassen und vor allem Rennradfahrern. Uns ist es dort eindeutig zu trubelig. Wir stoppen kurz und dokumentieren den Ausblick auf einen Gletscher und einen Turm aus dem 1. Weltkrieg. Dieses Areal war grausamer Kriegsschauplatz.


Wir blicken auf die, bei Rennradfahrern beliebten, Kehren hinab, von denen wir jedoch nur einige nehmen bevor wir in einen Forstweg abbiegen, der uns weit oberhalb des Tals einige Kilometer geradeaus führen wird. Hier sind wir wieder für uns allein.

Nach etwa 51 Kilometern machen wir kurz Pause, füllen unsere Wasserflaschen erneut auf und stärken uns mit einem Energieriegel. Wir wissen jetzt bereits, was wir nach der Tour nicht mehr essen werden.
Die Garmin-Geräte signalisieren uns den Start des zweiten Anstiegs. Er beginnt mit einer kurzen aber steilen Abfahrt. Gut, dass wir die Helme bereits abgenommen haben.
Die kommende Steigung hat eine Neigung von 18-20 Prozent, eindeutig zu steil für uns. Wir entscheiden uns für schieben.

Auch im oberen Teil ist der Untergrund teilweise nicht fahrbar. So erarbeiten wir uns einen Großteil der 450 Höhenmeter zu Fuß. Auch das gehört zu einem Alpencross. Teilweise sind wir schiebend schneller, als wenn wir versuchen würden, die Anstiege hinauf zu kurbeln.

Die Landschaft ist atemberaubend. Jeden Tag unserer Tour scheint die Natur nochmal eine Schüppe drauflegen zu wollen. Und doch sind selbst hier in 2100 Meter Menschen zu finden, die im Einklang mit der Natur leben.

Wir erreichen den Passo die Verva auf 2301 Meter.

Auf den restlichen 20 Kilometern unserer Etappe vernichten wir 1600 Höhenmeter. Der Abstieg fordert nochmals unsere volle Konzentration. Auf losem Untergrund geht es abwärts. In den Alpen ist auch Berg runter fahren anstrengend. Unsere Finger schmerzen vom Bremsen, das Gefühl von Ameisen breitet sich in den Unterarmen aus. Immer wieder schlagen unsere Hinterräder Haken, weil sie einen dicken Stein erwischt haben. Nach etwa 10 Kilometern wechselt der Forstweg auf eine Straße und wir erreichen die ersten italienischen Bergdörfer. Hier spielt sich wahrscheinlich ein ganz eigenes Leben ab.

Auf der Straße können wir rollen lassen und fliegen auf den typisch italienischen Serpentinen hinab unserem Ziel entgegen.

Nach 8 Stunden 18 Minuten endet unsere Tour in Grosio. Insgesamt haben wir 82 Kilometer mit 1420 Höhenmetern bewältigt.

Der Ort Grosio liegt auf etwa 590 Meter über NN. Wir können also ahnen, was morgen auf uns zukommt, wenn wir über den nächsten Pass auf etwa 1800 Metern müssen…